Montag, 26. November 2012

Schlusslicht 1



„Weißt Du, was ein „Schlusslicht“ ist?“, fragte mich die Unke.
„Ja, klar! Das ist der oder die, die bei Wanderungen als letztes gehen – und aufpassen, dass niemand verloren geht.“
„Wieso ist das wichtig?“, wollte ich wissen.
„Weil ich jetzt weiß, was ich hier tue“, sagte die Unke.

Es wurde ein längeres Gespräch, wie meist mit der Unke. Unken sind Wesen, die wenig schlafen. Sie träumen meist schlecht, weil sie die Welt von schräg unten betrachten. Von dort, wo der Sumpf beginnt und das Licht nicht so hinkommt.

Die Unke hat längere Zeit ihre Vision gesucht. Das war manchmal schon schwer zu ertragen.

„Weißt Du, ich hab immer an dieses Bild von den Zugvogel-Schwärmen gedacht. Da ist eine vorne und hat den größten Luftwiderstand und die anderen fliegen in V-Form dahinter und quaken ihr Mut zu.“ – „Ein weit verbreitetes Bild, heutzutage“, meinte ich.

„Und wenn Du nach einer Idee suchst, mit der Du da vorne fliegen kannst, die so gut ist, dass alle anderen hinter Dir herfliegen und Dich sogar noch ermutigen, dann kannst Du ganz schön ins Grübeln kommen.“

Jeden Falls ist die Unke eines nächtlichen Morgens wach gewesen und hat überlegt, was sie denn eigentlich und schon die ganze Zeit über gemacht hat. Und da ist ihr das mit dem Schlusslicht eingefallen.

„Ich schau auf die, die nicht mehr mitkommen. Auf die, die fast auseinander brechen. Auf die still Verzweifelten, die fast den Verstand verlieren... und irgendwie ist Unke-sein auch sehr hilfreich dabei. Weil ich von dort her schaue: Wo alle Angst haben, zu versinken und abzusaufen. Wo es finster ist und auch modrig. Da kommt kein Scheinwerfer hin. Da hat es sich aus-geschämt, weil da braucht keinesmehr fürchten, dass es sich angepatzt hat oder dreckig wird. Und hinfallen kannst Du auch nicht.“

Okay, ich hab eine Unke zur Freundin. Und weil das so ist, hab ich gesagt, „Unke, ich hör Dir gerne zu. Du hast sicher viel zu erzählen.“

„....Weißt Du, ich bin auch auf facebook“- auch Unken gehen mit der Zeit, sonst finden sie ihre Leute ja nimmer. "Und vor einiger Zeit habe ich plötzlich dort einen NACHRUF gelesen. Da hat sich jemand an jemand erinnert – mit irgendeinem passenden Bild dazu. Und später haben zwei Bekannte auch mit so Engelssprüchen und stimmungsvollen Bildern geschrieben, dass sie traurig sind... und immer hab ich gerätselt, um WEN die da trauern? Und plötzlich kommst Du Menschen ur nahe, die Du kaum kennst.

Und vor kurzem schrieb eine, dass sie vor Schmerzen grad weint und nicht sitzen kann... das ist eine ganz eine Fleissige, die nie in Krankenstand geht und immer weiter gearbeitet hat. Und jetzt hat sie gleich mehrere Bandscheibenvorfälle gleichzeitig... was schreibt man so jemandem?
Die ist dann wieder verschwunden, mitten im Chat... und das MIR! Wo ich doch das Schlusslicht bin!"

"Aha."

"Und andere haben Babies bekommen und jetzt weiß ich, wie die ausschauen... und dass einem ins Auto eingebrochen worden ist, und er wütend-verzweifelt.. und andere auf Urlaub fahren oder schon sind: Bilder von Stränden, wo andere schreiben: „Ich beneide Dich“ oder „Genieß es!“

Stell Dir vor: viele fotografieren ihr ESSEN und stellen das rein. Und dann schreiben die andern, dass sie was für sie aufheben sollen... oder „Mahlzeit“. 

Wieso kommt das als Einsamkeit bei mir an? Wieso denk ich dabei, dass „Teilen“ immer schon von Hand zu Hand und von Mensch zu Mensch, was Direktes, Gefühlvolles, Warmes war – und jetzt tippen die was in die Tasten und haben keine Zeit mehr, einander besuchen zu kommen! Ein paar Taschentücher rüber zu geben, eine Schulter beweint zu bekommen... oder gehalten zu werden, bis es halbwegs erträglich wird.

Verstehst Du jetzt, wieso ich nicht schlafen kann?...“

Jetzt bin ich das Schlusslicht für die Unke.

Es ist mir eine Ehre.

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